Versuch einer Annäherung:

Photographie, Möglichkeit und Grenze, einem Menschenbild gerecht zu werden. 


© Thomas J.M. Hauzenberger 2000

 

 

 

     

 

 

 

 

 

 

 

Obwohl ich über zwei Jahrzehnte jenem Mann fast täglich begegnete, wenn ich das Grundstück zu unserer gemieteten Wohnstatt durchmaß, oder die Wegstrecke von dem Haus zum Gartentor zurücklegte, wäre es zuviel gesagt, wenn ich bekundete, ich hätte diesen Mann gut gekannt.

 

 

       
       

            

    

Wer dieser Mann in seinem Leben, das sich über ein ganzes Jahrhundert erstreckte, war, über den meine Mutter wenige Tage nach meiner Geburt notierte, dass er sich wünschte mein Taufpate zu werden, ich werde darüber kaum verläßlich Auskunft geben können. Denn obwohl ich seit dieser Zeit seinen Namen trage, der gleichzeitig auch der meines Vaters ist, bin ich jenem zeitlebens nie wirklich nahe gekommen.
Anders formuliert: die oftmals täglichen Kontakte, en passant, beim Ankommen und Aufbrechen, die langen meänderförmigen Gespräche, eine fast dreissigjährige zu Buche stehende Beziehung unserer Familien, die über das Vermieter-Mieter-Verhältnis weit hinausging, ergeben auch in der Addition noch nicht jene "blinde" Vertrautheit, die einer freundschaftlichen Bande innewohnt.
Wie aufrichtig steht es aber mit der entbehrten Zuwendung? Entsprach es denn wirklich meinem Wunsch, sich ihm anzunähern, mich ihm in dringenden Fragen mitzuteilen, seinen Rat einzuholen, oder war nicht lange gerade das Gegenteil der Fall?


Gehörte nicht dem Alltag vielmehr der regelmäßig erneuerte Versuch, ihn zu umgehen, ihn zu meiden, ihm nicht zu begegnen, und sofern das nicht gelang, ihm nur vordergründig Gehör zu schenken, oder seine Ansprachen als belanglos und antiquiert abzutun? -- Heuchle ich also gerade nach dem Motto: De mortuis nihil nisi bene? (Über die Toten nichts als das Gute)

Tatsächlich mussten Jahre ins Land gehen, bis ich ihm begegnen wollte, ihm nicht mehr vorsätzlich auswich, seinen mit meinem Weg kreuzen ließ, es plötzlich zu schätzen wusste, wenn er aus der Erde wuchs wie ein faunisches und nicht mehr länger mephistophelisches Wesen.
Das war lange nach der "Walnußbaum-Zeit" und meinen "wilden Jahren", als ich das Grundstück eher als Besucher betrat und nicht mehr täglich.
   Ihm zu begegnen gelang dann über das "lästige Ritual" hinaus zur willkommenen Bereicherung, zum Entree in eine besondere Sphäre, die weder städtisch noch ländlich zu nennen ist.
Das Grundstück zu betreten bedeutete dann in ein Gespräch mit ihm einzutreten zu wollen, das ganz allgemein gesprochen über dieses und jenes und die Welt handeln konnte -- ausgenommen von diesen Streifzügen war allein das Persönliche.
   Im Mikrokosmos Marsopstraße stand der Welterklärer fast griechisch, ohne Bart im schlichten Kleid des "Handwerkers mit Tiefgang" und zeigte sich mit seiner etwas kantigen asketischen Physiognomie. Asketisch bis athletisch kam einem der ganze Mann so in die Quere. Der Achtzigjährige und seine behende ausgeführten Klimmzüge, Proben einer bewunderten Selbstdisziplin, ließen den Adoleszenten erblassen. So stark so alterslos erschien mir der Mann. Fast hatte ich mich gedanklich darauf eingerichtet, dass es dieser kernigen Inkarnation von emsiger, nie ermüdender Betätigung und Schaffenskraft gelingen würde, auch mich zu überleben.
   Kehrte ich nach Wochen "heim", war Josef E. als erster da. Wie von einem Schiffsausguck erspähte er meine Ankunft und brachte mich so noch vor meinem Vater auf den für das Grundstück zeitgemäßen Stand. Als Lotse, nicht als Kapitän grüßte er die Ankommenden.
Obwohl die Gesprächsinhalte buchstäblich grenzenlos waren und eher selten persönlich, betrat man mit dem Garten auch eine andere Zeitrechnung, eine andere vom lauten Treiben der Großstadt verschiedene Terra.
   Seine Beredsamkeit war beinahe sprichwörtlich. Und letztlich wurde es für alle Ankommenden und Aufbrechenden, Besucher und Einheimische, fast zum Ritual, zu jeder Jahreszeit, auf halber Wegstrecke, sich seiner Eloquenz zu versichern. Und etwas gröber gesagt: Ein Vorbeikommen an ihm war so leicht nicht möglich. Dass er bestimmten Damen gegenüber das nicht ganz freiwillig mit ihm zu führende Gespräch mit einer tiefen,  auf eine gesunde körperliche Verfassung schließen lassende Verbeugung eröffnete, zeichnete seinen besonderen Charme aus.

Personen außerhalb seiner Gunst erwartete das Pendant zur Höflichkeit.

Es war eher selten - und ein sicheres Zeichen, ihn am besten an bestimmten Tagen nicht anzusprechen - wenn er nicht innehielt, nicht unterbrach sein emsiges Tagwerk, kam man in seine Reichweite.
   War er aber bereit zum Intermezzo, wurde das Steinerücken, Astbeschneiden, Sensen,

 

Kompostieren, Steinebearbeiten, Schubkarreschieben zu jeder Jahreszeit unterbrochen, um elegant vom tätigen in das nachdenkliche, ja quasi philosophisch zu nennende Fach zu wechseln. Aufgestützt auf einem Rechen, abgestreift den Arbeitshandschuh, verstand er es dann, einen mal mehr und mal weniger erfolgreich auf seine Streifzüge zu entführen. Künsterkollegen, deren Namen mir oft zum ersten Mal begegneten und deren Zitate er im Stile einer Exegese für seine unzeitgemäßen Betrachtungen in Anwendung brachte, sekundierten seiner von einem gestochenen Sprachduktus und von einer erprobten Gebärdensprache beherrschten Rhetorik.
   Dabei freute es mich natürlich auch, dass seine oftmals ausgestellte politische Meinung, die er keineswegs verbarg, mit meiner häufig in Einklang kam; die trefflichen Kommentierungen etwa über so manches in der Kohl-Ära habe ich noch heute im Ohr.
   Ja, es konnte lachenmachende kurzweilige Momente geben, so dass das Gespräch fast nicht enden konnte. Nach einer trefflich plazierten Pointe faßte er sich dann öfters in sein stets kurzes Haar und lüftete das manchmal von einer schlichten Mütze bedeckte Haupt.
Mit so einer Unterhaltung begann oder endete oft ein wohltemperierter Tag.

Gelingen konnten diese fast auf eine "Ebenbürtigkeit" hinauslaufenden Dialoge, weil für mich eine andere Ära abgelaufen war, die ganz auszusparen nach meinem Dafürhalten einem Beschönigen das Wort redete, das aus meinem Munde nicht gerade glaubhaft wirkte.

Man möge mir diese folgenden Zeilen also nicht übel nehmen.

Aber soll ich überhaupt angesichts seines Todes davon sprechen, dass, wie ich einmal schrieb, "der Vielheit an schönem Schein sich ein schwer verständliches Reglement dazu gesellte", das "die Betroffenen gerne in Angepaßte und Streitbare trennte." Daß trotz des besonderen Ortes, der Aura, die von den so gewählt gestalteten Kulturen der Steine und Pflanzen ausging und ausgeht, meine Kindheit in der Rückschau trotz dieses so sicht- und greifbaren harmoniebegabten Terrains auf eine bestimmte Weise "nicht immer sehr befreit" in Erinnerung tritt.

 

 


Ich kann und will diese Sätze nicht zurücknehmen, nicht tilgen. Sie haben vor acht Jahren Josef E. persönlich erreicht und auch betroffen gemacht. Ich selbst wollte ihn damals weniger verletzen als unserer komplexen Beziehung durch besondere Aufrichtigkeit gerecht werden.

In der Kindheit, der Jugend und später der Pubertät verzerren

 

sich manche Eindrücke. In der Rückschau würde ich meine Kindheit -- auch wenn das eine beliebige Phrase sein mag -- durchaus als "glücklich" bezeichnen.

Aber um wie vieles angenehmer und goldener würde ich die Zeit, die mir vergönnt war, dieses herrliche Grundstück täglich zu betreten, erinnern können, wenn ich mich als Kind nicht des öfteren vor Josef E. "geängstigt" hätte. Und das auf eine Weise, dass ich heute froh bin, bereits als Jugendlicher diese Empfindungen zu überwinden imstande gewesen zu sein.

Betrat ich in diesen Jahren das so schöne Anwesen und begegnete ich jenem, so fühlte ich mich ertappt und irgendwie schuldig. Der bohrende, forschende Greifvogelblick, gefolgt von seiner überfallartigen Anrede, das Kind nahm diese theaterdonnernden, ehrfurchtgebietenden Auftritte und Abtritte ernst und persönlich. Gelegentlich kam es mitunter sogar vor, dass ich durch unser Treppenfenster seine Schritte und Tritte beobachtete, um dann in einem günstigen Moment, unentdeckt, das Grundstück zu verlassen. Meine frühe Schüchternheit, eine unbestimmte Scheu im Umgang mit Erwachsenen, in dieser Zeit wuchs das Introvertierte zu einer Art Urscham.

Erst später erkannte ich, dass ich die Angst vor ihm zum Teil selbst verschuldet hatte, dass es falsch wäre, die von meinem Vater vorgelebte Anpassungsleistung mit meiner Art von Ängstlichkeit zu erwidern - und allmählich lernte ich auch seine Art kennen und schätzen.

Dann wurde es mir gelegentlich, wie ich oben schon ausführte, ein mitunter rechtes Vergnügen, ihm im Gespräch nicht nur zu folgen, sondern jenes durch meine Repliken auch zu bereichern.

Es war ein langer aber gleichwohl stetiger Prozeß von einem "Eingeschüchtertsein" zu jenem heutigen Bewusstsein, das mich diese Zeilen formulieren lässt, indem ich mich vor dem Leben Josef E.s.  verbeuge.

Denn bei allem, was ich hier als Kritzelei zu Papier bringe, ich habe nicht aufgehört, den Weg zu gehen vom Tor zum Haus, wenn es Nacht ist.

Meine kritische Einstellung zu den Dingen habe ich dort erworben, neben dem Tast- und Geruchssinn, dem Sinn des Ästhetischen also, die Kunst des Unterscheidens. Und Josef E.  setzte einen ersten Maßstab, nach dem eigenen Vater. Seine auctoritas, die mich zuerst fürchten machte, um mich ihr dann zu widersetzen, um sie heute in einem gerechteren Lichte zu betrachten, war die erste ihrer Art. Seine mich betreffenden Ansprachen, Ermahnungen, Belehrungen, aber auch Erzählungen, Anekdoten und seltenen Lobbekundungen, entsprachen einem "Grundgesetz", meine mich betreffende grundsätzliche Beurteilung.

Natürlich: durch den Schulgang und anderen Umgang schleifte sich die häusliche Tyrannis ab, es gab plötzlich andere Götter, neue Angst brach sich Bahn, denn jenseits von "Captain Ahabs Reich" verringerte sich mit jedem Meter Entfernung, die man zu Fuß oder mit dem Rad zurückzulegen hatte, jene Befangenheit.  -- Welche nicht erzählte Geschichte, welches Geheimnis sich da verbarg, welcher Art von Walfisch seine Getriebenheit galt, wenn er in seiner ihm eigenen Choreographie sein Territorium auf und ablief, ruhelos und stetig, in der Aufmachung des Knechtes und nicht des Herrn des Hauses, ich kann es auch gelegentlich dieser Zeilen nicht sagen.

Über seine Biographie, seine Lebensleistung im einzelnen, die Auffassung und Ausübung seines Berufes, die Besonderheit seiner Familie, die anerkennend zu erwähnende Form des Widerstandes während der NS--Zeit, will dieser Versuch bewußt nicht handeln.

Wie persönlich er meine "Erziehung" nahm und welche bizarren Formen das bisweilen zeitigte, veranschaulicht besonders jener granitene Eintrittsstein, den er für mich und nur für mich setzte. Ich sollte fortan nur über diesen Stein den Wiesengrund mit dem Salbeibusch und den Obstbäumen betreten. Es wird erzählt, dass ich im Winter nach dem Stein suchte und herumstocherte, um so auf legale Weise meinen Schneemann zu bauen. Aber das war eher die Anekdote zu der größeren Erzählung.
Nämlich dass meiner Familiem -- damals in den frühen sechziger Jahren  eine besondere paternalistische Fürsorge zuteil wurde, die mitunter die Grenze zur Kontrolle überschritt.

Mit Josef E. aber und seinem Gedächtnis verliere ich ein Stück dieser schwarz-weiß bis vergilbt erinnerten inneren Jahre.
Zu dritt bewohnten wir ein Zimmer, die Eltern widmeten sich ganz der Kunst. Dieser Ära eingedenk, klammere ich mich an die Idee, dass das glücksbegabte Jahre waren.

Nach dem Tod meines Vaters kam es einmal zu einer deutlichen emotionalen "Berührung". Ohne auf direkte Weise über den Verlust meines Vaters Worte des Bedauerns finden zu können, sprach er über sein Verhältnis zu seinem Vater, und der, so verstand ich es damals, sehr entbehrten emotionalen Bindung.
Ganz kurz, so glaube ich mich zu erinnern, war seine Strenge einer mich heute noch bewegenden sensiblen Geste gewichen.
Für mich ist entscheidend, nicht ob ein Streit, ein Zwist, eine Schwierigkeit unter Menschen beginnt, sondern wie es schließlich glückt und endet und überwunden wird.

Ich sage das auch im Hinblick auf meine nicht einfache Beziehung zu meinem Vater.
Denn gerade die eigenwilligen Verbin-dungen zwischen Vätern und Söhnen, scheinen ja noch immer die intensivsten zu sein. Und dann kostet es womöglich noch mehr Kraft, ohne sie zu leben.






Epilog: Vom missglückten Porträt.
Im Schwinden der Blick zurück

 

Mitte November 2000 hat mich die Nach-richt vom Tod des Bildhauers Josef E.  erreicht.

Was danach einsetzte, diese fragmentierten Erinnerungen, Schnipsel und vielleicht anmaßenden Skizzen, von denen ich Ihnen/Euch einen Teil hiermit an die Seite lege, fokusierten sich auf eine schwarz-weißene Aufnahme, ein sogenanntes mißglücktes Porträt, das ich von dem Verstorbenen 1989 aufnehmen konnte. Zufällig war nämlich ausgerech-net dieses Bild neben anderen auf meinem Schreibtisch gelegen, als mich die Nachricht erreichte.

Mit der Nachricht von seinem Tod wurde das Beiläufige zum Wesentlichen, die Photographie zur Momentaufnahme, die verewigt. Mit einem Mal hatte ich ein konkretes Bild von meiner Schwierigkeit, mich ihm anzunähern.

Diese Schwierigkeit und sein Tod spiegeln sich vielleicht in seinem Ausdruck wieder:

                 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
 
 
 
 

 
 
 
 
 

 
 
 
 
 
 

 

 

       

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Unter den Photographien, die ich im Laufe der Jahre von Josef E. aufgenommen habe -- viele sind ohne sein Wissen durchs Fensterglas entstanden -- ragt diese Moment-aufnahme besonders heraus. Wie so oft spielte bei diesem Bild einer Serie das Nichtbeabsichtigte, das Zufällige die Hauptrolle.
Der auf dieser Photographie Fünfundachtzigjährige will meinem Objektiv tatsächlich ausweichen. Er ist im Begriff daher seitlich hinter der Ateliertüre zu verschwinden, was ihm, was zu sehen ist, nicht gänzlich gelingt.

Menschen fremdeln beim Photographiert-Werden. Josef E. macht aber daraus eine souveräne Verweigerung. Die Weigerung zur Geste stilisiert gibt sich hier als Bescheidenheit aus, deren kokette Note in einer anderen Photographie zum Ausdruck kommt. Die Aufnahme dokumentiert also dieses Vorhaben und friert den Moment auf halber Strecke ein.

Die Gelegenheit, Josef E.  mit seinem Wissen aber gegen seine Neigung aufzunehmen, liegt lange zurück:

In der zweiten Jahreshälfte 1989 war ich gebeten worden,

 

keine Gedenkplatte, die Josef E. im Andenken an die Widerstandsgruppe des "Kreisauer Kreises" um Hellmuth James Graf Moltke für eine Schule fertigte, aufzunehmen.

Wenn ich mich richtig erinnere, erläuterte E. am Objekt präzise seine ihn leitenden ästhetischen Vorstellungen.
Klar und kompetent sprach er über die besondere Materialbeschaffenheit, die Wahl der Schrifttype, die Plazierung des Wappens. In diesen Momenten stellte man sich E.  gerne umringt von Steinmetz- und Bildhauerlehrlingen oder Studierenden vor. Hätte sich der Adoleszent doch auf dieser Ebene mit ihm verständigen wollen.

Ein anderes Porträt, bei gleicher Gelegenheit entstanden, zeigt ihn, wie er im Türrahmen sein Gesicht mit einem, Goethe-Scherenschnitt verdeckt. Das ist nicht neu aber in seiner spontanen Reaktion bemerkenswert. Neben dieser ironischen Replik auf meine Belichtungsattacke fällt vor allem die jungenhafte Körperhaltung auf, die seinem Alter hohnlächelt.

 

Roland Barthes beschreibt in seiner "Chambre Claire" das Bild eines Delinquenten, das um die letzte Jahrhundert-wende entstand.

Der zum Tode Verurteilte --  eine vitale und schöne Erscheinung -- , dessen Hinrichtung kurze Zeit nach der Photographie vollstreckt worden ist, blickt in das Objektiv, blickt den Photographen und alle Nachfahren des ersten Betrachters in die Augen.

Die Delinquenz, auch unsere Delinquenz, das zum-Tod-Verurteiltsein, die Einsicht, dass jedwelche Photographie, die wir verschwenderisch von uns fertigen als bunte Menschenbilder letztlich Totenbilder sind. Wer würde sich aber morgen durch unsere bunten
Kladden der Oberflächen arbeiten?

Im (Ver)Schwinden der Blick zurück. An-näherung an ein Fluchtbild, das seit kurzem jenen großen Abschied bebildern hilft. Damals war es nur eine kleine Flucht.
 

Photographien bedürfen oft nicht der Erklärung, kommen ohne Kommentar aus. Das ist gut so.

 

 

Dem beinahe familiär zu nennenden Brauch, zwischen den Jahren, ein solches Bild, das für sich selbst spräche, als Gruß an Freunde zu verschicken, wollte ich ursprünglich auch an diesem Jahreswechsel entsprechen.

Dass ich der melancholischen Venedig-Ansicht oder dem arrangierten Atelierbild, für dieses Mal obigen Text mit Bild vorzog, stößt hoffentlich auf Euer und Ihr Verständnis.

Etwas verspätet begleiten diese Seiten auch meine herzlichen Grüße für das Jahr 2001

Was es denn zuvorderst war, das mich zu diesem Nachruf veranlasste,
Peter Härtling nannte es einmal "nachgetragene Liebe".

Etwas tiefer gehängt, denn ob der Verklärung schrieb ich nicht, gilt der ganze Aufwand vielleicht meinem von ihm mir und meiner Kinderwelt gesetzten Eintrittstein, der auf das Rasengrün und dann in die Welt führte.


München, am 27. November 2000 und
 9. Jänner 2001

T. H.

 

Der Tod von Marianne E.  läßt diesen Text in einem anderen Licht erscheinen. Vor allem merke ich heute, dass ich es aus einer bestimmten Scheu heraus versäumt habe, Marianne E.  auf andere, direktere Weise zu begegnen, mit ihr, der so belesenen Frau, beizeiten, als das noch möglich gewesen wäre, das ein oder andere  Gespräch zu führen.

Im Andenken

Für Ruth, Ursula und Simon


TH, 8. Mai 2006    

Zum Tode von Josef Erber

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Atelier v. Josef Erber, Aufnahme: Juli 2008, Foto: TH

 

 

 

 


 

 

Die Adresse:

 

Wohnstatt und Spielort, bewacht vom immergleichen, lauernden Bellen eines alten Mannes. Die Buche ist fort, in aller Ausführlichkeit

Ihr Fenster zuletzt, der Blick zeigte ihr eines Tages jenen verlassenen, vom Baumgrün aufgegebenen Platz. Plötzlich wieder Licht, auf einmal drohte der Tag ganz hell, kein Schatten zum Atem holen, sich im Zwielicht verbergen.

Das Fenster, schön unterteilt, zerlegt den Blick in sechs Segmente. Als sie das Zimmer, zu dem dieser Blick ins Freie gehört, bewohnte, sahen wir uns eher gelegentlich as. Es ergab sich von Zeit zu Zeit. Hin und wieder lief man sich über den Weg. - Sich gewollt aufzusuchen, beim anderen zu läuten, Klopfzeichen zu erproben, das war eher selten. - Was ich zum Beispiel überhaupt nicht erinnere: ihre Stimme am Telefon.  - So wie man jemanden, weil aus der Nähe, nicht beim Vornamen anspricht, so verliefen wenn Begegnungen stattfanden ohne besondere Rituale des Ankommens und des Abschieds ab. In Rufweite, mehr vertraut als benachbart.

Das machte die Begegnungen auch weniger feierlich: frisch bekannt gemacht, mit feinem Hemd, rotem Wein, und vielleicht dem Sehnen, geküsst zu werden, das kam nur bei bestimmten Anlässen vor. 

 

 

 

 

Nachdenken über Christa W.:                   
   
 
Es gibt wenige Tage im Leben, die sich einprägen als Marksteine, als Momente, in denen klar wird, 
dass eine Ära unwideruflich verloren ist. - Der Tod der Eltern, der den unbedarften Grenzverkehr zur  
Kindheit verriegelt, als persönliche Dimension findet seine Entsprechung bei jenen, die wir im Über-
schwang unserer Empfindungen als wahlverwandt aufnahmen in den inneren Dialog, nenn' es den 
riskanten Weg zu sich und gleichzeitig zu sich als soziales Wesen. 
Der Tod von Christa Wolf, 1929 in Landsberg geboren, ist ein solcher Moment. - 
 
Als ich 1983 ihre vielschichtige, zwischen den Fronten des schon in die Wechseljahre gekommenen
kalten Krieges beschriebene "Parabel", die sich pazifistisch, feministisch ja fast plakativ in Stellung bringt
von Troja, bzw. Mykene aus, in die Hände bekam, um in der damaligen Erregungszeit zwischen Star-Wars-
Phantasien und Nach-rüstung, personalisiert von einem deutschen Kanzler, der heute als philosophierender
Weltmann firmiert, mich mit der Kraft einer einzigartigen stilistischen Schönheit sozusagen einer Metaebene 
versichern konnte, als ich also "Kassandra" las, dann bald darauf nach Ost-Berlin im Sommer fuhr, Bücher von ihr
dort erstand, da wurde mir klar, dass diese Art zu schreiben mir als Maß gelten würde - ein Leben lang.
 
Christa Wolf hat mich in dieser Zeit bereichert, angespornt und verfeinert, aber letztlich auch desillusioniert,
indem ich mir meiner eigenen begrenzten Mittel nur allzu gewahr wurde.-  Dabei war ihre Art der
Literature engagée, wie sie ein französischer Großphilosoph propagierte, für mich das gelungene Versprechen
auf die Einheit von Beruf und Berufenheit. - Nicht dem L'art pour l'art-Prinzip, sondern einem gesellschaftlichen
Auftrag verpflichtet, die nachdenklichen, feinstofflichen Möglichkeiten herauszuarbeiten, den Menschen, wie
das schon die Fleissner sagte, zu heben. - Weil ich selbst auf meinen kurzen Stipvisiten in den Realsozialismus
schnell davon unterrichtet wurde, dass in dem miefigen, latent menschenfeindlichen System zwar fabelhafte 
und verehrenswürdige Künstler ihren Wohnort, aber offenkundig keinen Einfluss auf die grundliegende Politik
hatten, war es nur ein Fünf-Minuten-Plan, der mich wie einst Biermann, in die andere Zone, in ihre Nähe emigrieren liess.
 
Trotzdem: Natürlich war sie privilegiert, eine Art Staatsschriftstellerin mit Freiheiten.- Auch für Kassandra konnte sie 
Griechenland nicht nur mit der Seele eine Besuch abstatten, sie konnte, wie das nur Leistungssportler etc. ver-
mochten, sich hin und her bewegen. - Ich gebe zu: ich habe mich mit dieser problematischen Situation nicht wirklich
beschäftigt._ Auch von mir bekam sie einen Freifahrtsschein, denn selbst auf die Gefahr einer Verstrickung, von der 
einige Jahre später ja dann auch tatäschlich berichtet werden sollte, ich empfand es als nebenrangig angesichts
eines Schreibstils, einer gleichzeitig innerlichen und doch sozialen, auf den anderen bezogenen, Schreibansatzes.
 
Und weil sie der Segher'sche Versteifung, Verfestigung in eine künstlich, aufgesetzt wirkende Agit-Prop-Stilistik 
erfolgreich widerstand, konnte sie freilich auch von der bürgerlichen Westkultur des deutschsprachigen Bereichs 
als die ihre angenommen werden.- Wirklich interessant ihre Romane auf diesen Doppelblick, auf diese zwei 
so unterschiedlichen Leserschaften hin, nochmals zu lesen.
 
Das soll es unmittelbar nach Erhalt der Nachricht vom Tod der grossen Schriftstellerin erst einmal sein.
 
TH 1. Dezember 2011
 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 


 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 





 

 

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